Re-Reading: "Schönheit im normalen Sinne interessiert mich nicht". Ein Gespräch mit Marc Brandenburg

In unserer neuen Reihe „Re-Reading“ präsentieren wir Interviews, Artikel und Essays aus dem ArtMag-Archiv, die es wert sind, noch einmal aus heutiger Perspektive gelesen zu werden. Sei es, weil die jeweiligen Künstler*innen, Kurator*innen oder Autor*innen gerade mit Ausstellungen oder Projekten im Fokus stehen oder weil ihre Stimme von einst einen Beitrag zu aktuellen Debatten leistet.

Marc Brandenburg, dessen Ausstellung „Hirnsturm II“ noch bis zum 28. August im Berliner PalaisPopulaire zu sehen ist, spricht anlässlich seiner Werkschau 2011 in der Hamburger Kunsthalle in diesem ArtMag-Interview mit Oliver Koerner von Gustorf. Im Gespräch umreißt er Motive und Strategien in seiner Arbeit, die bis heute gültig sind – und spricht über seine Liebe zu Barcelona, Michael Jackson und warum er es gut findet, ein Außenseiter zu sein.

Erschienen in ArtMag, Mai 2011

Oliver Koerner von Gustorf: Der Himmel ist knallblau, ihr habt wohl fantastisches Wetter in Barcelona…

Marc Brandenburg: Ja, und hier ist heute CSD-Terror. Es gibt immer noch genügend Gründe für Homos auf die Straße zu gehen, aber dieser "Karneval der puren Lebensfreude" – schauderhaft. Ich hatte kurz überlegt, bin dann aber lieber auf die Plaza Catalunya gegangen. Dort ist seit Wochen "Revolution". Die Proteste werden von der gesamten Bevölkerung unterstützt und eigentlich macht jeder irgendwie mit. Kein Wunder, bei über 20% Arbeitslosigkeit… Jetzt nach etlichen Wochen des Protestes ist der Platz, der ja ein wunderschöner zentraler Ort ist, zu einem Hippie-Dorf mutiert. Es gibt sogar Baumhäuser, total abstrakt.

Wieso bist Du für fast drei Monate nach Barcelona gezogen?

Weil mich hier so wenig ablenkt. Eigentlich gar nichts. Ich wohne bei einem Freund, der den ganzen Tag arbeitet. Das ist ganz praktisch, der lässt mir meine Ruhe. Ich muss also nicht reden und kann arbeiten, wann ich will. Das ist alles sehr angenehm. Mit der Kunstszene habe ich hier auch nichts zu tun. In den meisten Galerien hängen Bilder von bunten Sonnen und anderer kunstgewerblicher Quatsch. Täglich Strand ist auch nicht machbar. Ich kann mich also auf das Wesentliche konzentrieren.

Du hast ja auch viel an den Vorbereitungen zu Deiner kommenden Ausstellung "Zeichnung" in der Hamburger Kunsthalle gearbeitet.

Ja, das ist eigentlich meine erste große Einzelausstellung in einem deutschen Museum. Es gab zwar schon 2005 im Rahmen des Karl Ströher-Preises eine kleinere Ausstellung im MMK, aber dieses Mal sind es etwa 80 Arbeiten, die gezeigt werden – eine ganze Menge. Die Ausstellung findet im Saal der Meisterzeichnungen statt, einem riesigen fensterlosen Raum. Die gesamte Schau wird in Schwarzlicht getaucht, so dass die Zeichnungen fluoreszieren. Die Schwarzlichtinstallation ist zwar nichts Neues in meiner Arbeit, aber es hat mich immer gereizt, einen größeren Raum im Museum so zu bespielen.

In Deiner letzten Ausstellung "Version" im Juni in New York, im Studio Museum Harlem gab es auch einen Schwarzlichtraum. In einem Interview hat der Kurator des Museums, Thomas J. Lax, betont, welche zentrale Rolle das Licht in deiner Arbeit spielt. Er hat das ultraviolette Licht ganz besonders mit Orten in Verbindung gebracht, die für eine karnevaleske oder hedonistische Kultur stehen und die ja zum Teil auch in deinen Zeichnungen auftaucht: Vergnügungsparks, Spielhallen, Clubs, Bars.

Ach Gott… Oft spielt auch der Zufall eine Rolle. Ich habe den Schwarzlichteffekt als Präsentationsform für meine Bilder entdeckt, als ich mit frisch gekauftem Papier unterm Arm ins Kumpelnest 3000 rein spaziert bin, eine Bar in Berlin, wo eine Schwarzlichtröhre über dem Tresen hing. Natürlich kann man das fluoreszierende Licht mit Nachtleben oder Entertainment-Kultur in Verbindung bringen, das ist ganz in meinem Sinne. Aber eigentlich geht es mir dabei um einen ganz anderen Effekt – darum, dass die Kunst im Mittelpunkt steht.

Wie meinst Du das?


Es ist ein Trauerspiel, wenn Leute Ausstellungen als Treffpunkt oder Repräsentationsanlass sehen und sich gar nicht auf die Kunst konzentrieren. Du wirst ganz anders in den Raum reingezogen, wenn er nur von Schwarzlicht erleuchtet ist.

Weil Du völlig die Orientierung verlierst?

Genau. Es ist im Grunde genommen das negative Gegenstück zum White Cube: eine große schwarze Leere, in der einzelne Motive rumschwirren.

Wenn man deine Bilder aus über zehn Jahren anschaut, erscheinen die Menschen oder Dinge darauf fast sämtlich in "Drag" – verkleidet oder maskiert: Demonstranten, Clowns, Hooligans, Plastikspielzeug, Karussell-Figuren, Transen, Exzentriker. Wann zieht Dich ein Motiv an?

Mich interessiert alles, was aus dem heraustritt, was als gesellschaftliche Norm empfunden wird. Das können Obdachlose, demonstrierende Nazis oder Hooligans, absolut exzentrische und eigenwillige Personen sein, aber auch Menschen auf einer Fan-Meile oder Parade, wo es eigentlich akzeptiert ist, das man sich verkleidet oder extrem benimmt. Es gibt diese Situationen, die für meine Motive ganz wichtig sind – da fallen Personen oder Dinge aus ihrer Rolle oder stecken umgekehrt zu sehr in ihrer Rolle. Sie sind zu verkleidet, zu monströs, zu hart, ekstatisch oder militant. Für einen Augenblick wird aus einer Maskierung oder einem kollektiven Ritual oder einer Comic-Figur plötzlich etwas wirklich Fremdes, Leeres oder Undurchschaubares, das aus den unterschiedlichsten Gründen Angst macht…

Und einen zugleich völlig fasziniert.

Genau. Ich muss zugleich angezogen und abgestoßen werden. Allerdings geht es mir nicht darum, eine Freakshow darzustellen oder etwas "Bizarres" zu zeigen. Wenn ich Reinhard Wilhelmi, einen Freund von mir, im Skelettkostüm oder nackt mit Hasenmaske zeichne, dann bitte ich ihn nicht, sich zu verkleiden – er läuft halt zufällig gerade so rum. Ich bin ja ganz oft ein Teil von dem, was ich zeichne. Das sind häufig Menschen oder Dinge aus meiner ganz unmittelbaren Umgebung. Wenn ich Demonstrationen fotografiert habe, bin ich meistens auch mitgelaufen. Gleichzeitig – und das ist halt immer dieses Hin und Her – fühle ich mich auch immer ein bisschen außerhalb des Ganzen. Dieses Gefühl anders zu sein kennt ja jeder aus seiner Jugend. Bei mir war das extrem. Ich bin sehr von der Berliner Punkszene Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger geprägt. Ich war dreizehn, als ich anfing in Clubs zu gehen. Ich komme aus einem ziemlich gewalttätigen Elternhaus und bin quasi als doppelte Minderheit aufgewachsen: als schwarzer, schwuler Deutsch-Amerikaner. Aber so lange ich denken kann, war das Außenseitertum die einzig denkbare Art zu existieren. Das hat mein ganzes Leben geprägt. Dieses grundlegende Gefühl, das in allen Jugend- und Protestbewegungen elementar ist, spielt in meiner Arbeit eine wichtige Rolle: das Bedürfnis sich ganz klar abzugrenzen durch Kleidung, Musik, politische Einstellung. Einerseits grenzt man sich von der Außenwelt ab, aber zugleich verschwindet die ursprüngliche Persönlichkeit hinter einem Look, einer Haltung, einer Repräsentation. Das ist wie eine Uniform, ein Panzer.

Und diesen Panzer kann man nicht mehr vom Körper unterscheiden. Er verschwimmt völlig mit der "Verkleidung", wird eins mit ihr. Auf Deinen Zeichnungen ist nicht mehr klar, ob es sich um Haut oder Plastik handelt, ob dies ein Mensch oder eine Puppe ist, was Licht, Schatten oder Materie ist. Irgendwie bekommt man das Gefühl, dass die Körper auf deinen Bildern ausgehöhlt oder leer sind und von innen leuchten.

Das Augenmerk auf die Oberfläche, auf die Textur der Dinge zu lenken und deutlich zu machen, dass es sich vor allem um eine Repräsentation von etwas handelt, ist für meine Arbeit extrem wichtig. Mich interessiert die Struktur der Dinge mehr, als die Bedeutungen und Geschichten, mit denen das Motiv aufgeladen ist. Diese Leere hinter den Abbildern, das durchscheinende Weiß ist wichtig. Häufig wird mehr über den "queeren" Kontext der Motive gesprochen, als über den formalen oder konzeptionellen Aspekt der Zeichnungen. Das geht soweit, dass die Umkehrung von Schwarz und Weiß auf den Bildern mit meiner Hautfarbe in Zusammenhang gebracht und als Statement gegen Rassismus gedeutet wird. Dabei wird aber vergessen, dass ich nicht einfach etwas 1:1 kopiere, oder negativ abzeichne, um irgendeinen Effekt oder eine vorgefasste Botschaft zu erzeugen. Natürlich ist mir der dokumentarische oder auch biografische Charakter meiner Vorlagen und Aufnahmen enorm wichtig, aber viel zentraler ist für mich der sehr langwierige Akt der Reproduktion, der aus vielen Arbeitsschritten besteht.

Wie sehen die genau aus?

Ich beginne mit einer Auswahl von etwa 30 Fotos, die ich von einem Motiv mache. Am Ende bleiben vielleicht drei übrig. Die werden dann am Fotokopierer ins Negativ verkehrt, Kontrast und Helligkeit bearbeitet. Anschließend scanne ich sie ein. Am Computer verzerre ich dann die Negativversionen. Das habe ich in den letzten Jahren immer weiter getrieben. Es gibt inzwischen viele isolierte, vergrößerte Ausschnitte, auf denen man nur noch abstrakte Schlieren erkennt, und der Betrachter keine Ahnung mehr hat, was das ursprüngliche Motiv war. Die digital bearbeiteten Bilder zeichne ich ab – oder besser, ich kopiere sie per Hand.

Was ein sehr zeitraubendes Unterfangen ist.

Ja, das kann bei einer großen Zeichnung Wochen dauern. Bei meiner langsamen Arbeitsweise bedeutet das stundenlang in derselben Position zu verharren und einer extrem monotonen Tätigkeit nachzugehen, die vor allem ausführend ist. Der Prozess des Zeichnens versetzt meinen Körper zeitweilig in tranceartige Zustände. Durch die Zeit, die man sich mit ein und demselben Motiv beschäftigt, verleiht man der Arbeit einen ganz anderen Nachdruck und eine Wichtigkeit, gerade in einer Zeit, in der man täglich millionenfach mit Bildern bombardiert wird. Für mich ist das ein Akt des Aneignens, ein Ritual mit stark performativem Charakter, nur dass keine Zuschauer anwesend sind.

Geht es Dir dabei um eine möglichst virtuose Ausarbeitung des Motivs? Deine Zeichnungen werden ja häufig wegen ihrer Technik bewundert.

Eigentlich dreht sich mir der Magen um, wenn ich für mein zeichnerisches Können Komplimente bekomme, auch wenn ich weiß, dass es nett gemeint ist. Ich finde es natürlich toll, dass meine Ausstellung in Hamburg im „Saal der Meisterzeichnung“ stattfindet, gerade weil ich versuche, diesen Begriff von Könnerschaft zu unterwandern. Das Handwerkliche in meiner Arbeit sehe ich ziemlich kalt, wie ein Tool. Ich betrachte mich als Teil in einer gigantischen Bildermaschine und ich erledige meine Arbeit. Ich verarbeite im wahrsten Sinne des Wortes die Bilder, die auf mich einstürmen, die Dinge, die ich sehe oder sehen muss. Eine meiner Serien heißt tatsächlich auch Hirnsturm. Der Akt des Zeichnens führt dann auch weiter zu neuen Reproduktionen. Die gezeichneten Motive dienen zum Beispiel als Vorlage für Sticker oder Folien, die ich für neue Bilder, ortspezifische Arbeiten oder im öffentlichen Raum einsetze. Das kann etwa eine 14 Meter breite Fensterfront im Berghain sein, die ich mit Siebdruck gestaltet habe, oder auch einfach nur Sticker auf der Straße, die ich wie Tags hinterlasse.

Wieso hältst Du dann seit über einem Jahrzehnt am Medium Zeichnung fest? Du könnest doch rein digital arbeiten.

Ich weiß, dass ganz viele Menschen von dem Medium Zeichnung fasziniert sind und das nutze ich, um Leute anzuziehen, um ihre Aufmerksamkeit auf Dinge oder Situationen zu lenken, die sie sonst nicht so eingehend betrachten würden. Ein gutes Beispiel dafür sind vielleicht die Kotzelachen, die ich vor einer Weile in Paris fotografiert habe. Schönheit im normalen Sinne auf Papier zu bannen interessiert mich überhaupt nicht. Aber ich finde sie überall. Und diese Lachen schienen es wirklich wert, gezeichnet zu werden. Es sind wunderschöne abstrakte Formen und so sehen sie die Betrachter dann auch erst einmal, bis sie realisieren, worum es sich handelt. Dann setzt der Reflex des Wegguckens ein. Ich versuche in meiner Arbeit eher zum genauen und vorurteilslosen Hinsehen zu animieren. Die Lache von Erbrochenem ist beides – eine abstrakte Komposition und eine Dokumentation von latenter, zumeist männlicher Gewalt. Der Akt des Hinkotzens, Hinrotzens, Hinpissens dient ja auch dem Markieren von Terrain. Die Städte sind voll davon. Zugleich assoziiert sich das Erbrochene mit Überdruss, Exzess, Sucht, Überfluss, Ekel. Man hat einfach zu viel und möchte kotzen. Solche Ambivalenzen faszinieren mich. Vielleicht wirkt Reinhard in seinem billigen Skelettkostüm camp oder bizarr, aber er hat einen unglaublichen Stil und strahlt große Ernsthaftigkeit aus. Die Zeichnung von ihm kann man als schnappschussartiges Zeitdokument lesen. Sie kann aber auch an Vanitas-Darstellungen, mittelalterliche Totentänze erinnern oder natürlich auch an ganz zeitgenössische, mit Tod und Sterben verbundene Themen wie nukleare Verseuchung, AIDS oder Krieg.

Deine Zeichnungen zeigen häufig Phänomene aus der aktuellen Gegenwart, wie zum Beispiel Demonstrationen von Globalisierungsgegnern oder Nazis, Schneemann-Paraden für den Klimaschutz. Trotzdem wirken sie merkwürdig zeitlos und ähneln in ihrer Oberfläche den Motiven aus den 1960er und 1970er Jahren, die deine Serien immer wieder durchsetzten. So taucht bei Dir zum Beispiel nicht Lady Gaga als aktuelle Ikone der Popkultur auf, sondern immer wieder Michael Jackson oder Yves Saint Laurent, die eigentlich Legenden aus einer vergangenen Ära sind.

Das hat mehrere Gründe. Ich finde Lady Gaga eine tolle Künstlerin, obwohl ich mit ihrer Musik nicht viel anfangen kann. Aber noch ist sie viel zu sehr ein Zeitphänomen, als dass ich sie zeichnen könnte. Mich interessieren Menschen, die etwas sehr Zeitgemäßes und Progressives verkörpern und dabei aus der Zeit losgelöst erscheinen – durch einen eigenen Stil, eine eigene Haltung, eigene Visionen ihren eigenen Kosmos prägen und einfach nicht einzuordnen sind. Das kann Reinhard Wilhelmi sein oder Michael Jackson und Yves Saint Laurent. Der hat mit dem legendären Aktportrait von Jeanloup Sieff, das nach seinen Vorgaben entstand, ein absolut modernes und selbstbewusstes Bild des Homosexuellen geprägt. Michael Jackson wiederum hat Rassen-, Gender- und Altersgrenzen gesprengt. Er war der radikalste Entertainer des 20. Jahrhunderts. Er hat sich durch seinen extremen Reichtum in eine Kunstfigur mit unbestimmter Rassen- und Genderzugehörigkeit verwandeln können. Außerdem hat er noch drei weiße Kinder "gezeugt". Ich glaube nicht, dass es in Nordamerika auch nur eine gutbürgerliche afroamerikanische Familie gibt, der weiße Adoptivkinder zugesprochen werden. Das ist eine absolute politische Machtdemonstration. Mit all ihren tragischen und kaputten Aspekten verdeutlicht sie, wie weit wir von einer wirklich freien Gesellschaft entfernt sind.

Und einen zugleich völlig fasziniert.

Genau. Ich muss zugleich angezogen und abgestoßen werden. Allerdings geht es mir nicht darum, eine Freakshow darzustellen oder etwas "Bizarres" zu zeigen. Wenn ich Reinhard Wilhelmi, einen Freund von mir, im Skelettkostüm oder nackt mit Hasenmaske zeichne, dann bitte ich ihn nicht, sich zu verkleiden – er läuft halt zufällig gerade so rum. Ich bin ja ganz oft ein Teil von dem, was ich zeichne. Das sind häufig Menschen oder Dinge aus meiner ganz unmittelbaren Umgebung. Wenn ich Demonstrationen fotografiert habe, bin ich meistens auch mitgelaufen. Gleichzeitig – und das ist halt immer dieses Hin und Her – fühle ich mich auch immer ein bisschen außerhalb des Ganzen. Dieses Gefühl anders zu sein kennt ja jeder aus seiner Jugend. Bei mir war das extrem. Ich bin sehr von der Berliner Punkszene Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger geprägt. Ich war dreizehn, als ich anfing in Clubs zu gehen. Ich komme aus einem ziemlich gewalttätigen Elternhaus und bin quasi als doppelte Minderheit aufgewachsen: als schwarzer, schwuler Deutsch-Amerikaner. Aber so lange ich denken kann, war das Außenseitertum die einzig denkbare Art zu existieren. Das hat mein ganzes Leben geprägt. Dieses grundlegende Gefühl, das in allen Jugend- und Protestbewegungen elementar ist, spielt in meiner Arbeit eine wichtige Rolle: das Bedürfnis sich ganz klar abzugrenzen durch Kleidung, Musik, politische Einstellung. Einerseits grenzt man sich von der Außenwelt ab, aber zugleich verschwindet die ursprüngliche Persönlichkeit hinter einem Look, einer Haltung, einer Repräsentation. Das ist wie eine Uniform, ein Panzer.

Und diesen Panzer kann man nicht mehr vom Körper unterscheiden. Er verschwimmt völlig mit der "Verkleidung", wird eins mit ihr. Auf Deinen Zeichnungen ist nicht mehr klar, ob es sich um Haut oder Plastik handelt, ob dies ein Mensch oder eine Puppe ist, was Licht, Schatten oder Materie ist. Irgendwie bekommt man das Gefühl, dass die Körper auf deinen Bildern ausgehöhlt oder leer sind und von innen leuchten.

Das Augenmerk auf die Oberfläche, auf die Textur der Dinge zu lenken und deutlich zu machen, dass es sich vor allem um eine Repräsentation von etwas handelt, ist für meine Arbeit extrem wichtig. Mich interessiert die Struktur der Dinge mehr, als die Bedeutungen und Geschichten, mit denen das Motiv aufgeladen ist. Diese Leere hinter den Abbildern, das durchscheinende Weiß ist wichtig. Häufig wird mehr über den "queeren" Kontext der Motive gesprochen, als über den formalen oder konzeptionellen Aspekt der Zeichnungen. Das geht soweit, dass die Umkehrung von Schwarz und Weiß auf den Bildern mit meiner Hautfarbe in Zusammenhang gebracht und als Statement gegen Rassismus gedeutet wird. Dabei wird aber vergessen, dass ich nicht einfach etwas 1:1 kopiere, oder negativ abzeichne, um irgendeinen Effekt oder eine vorgefasste Botschaft zu erzeugen. Natürlich ist mir der dokumentarische oder auch biografische Charakter meiner Vorlagen und Aufnahmen enorm wichtig, aber viel zentraler ist für mich der sehr langwierige Akt der Reproduktion, der aus vielen Arbeitsschritten besteht.

Wie sehen die genau aus?

Ich beginne mit einer Auswahl von etwa 30 Fotos, die ich von einem Motiv mache. Am Ende bleiben vielleicht drei übrig. Die werden dann am Fotokopierer ins Negativ verkehrt, Kontrast und Helligkeit bearbeitet. Anschließend scanne ich sie ein. Am Computer verzerre ich dann die Negativversionen. Das habe ich in den letzten Jahren immer weiter getrieben. Es gibt inzwischen viele isolierte, vergrößerte Ausschnitte, auf denen man nur noch abstrakte Schlieren erkennt, und der Betrachter keine Ahnung mehr hat, was das ursprüngliche Motiv war. Die digital bearbeiteten Bilder zeichne ich ab – oder besser, ich kopiere sie per Hand.

Was ein sehr zeitraubendes Unterfangen ist.

Ja, das kann bei einer großen Zeichnung Wochen dauern. Bei meiner langsamen Arbeitsweise bedeutet das stundenlang in derselben Position zu verharren und einer extrem monotonen Tätigkeit nachzugehen, die vor allem ausführend ist. Der Prozess des Zeichnens versetzt meinen Körper zeitweilig in tranceartige Zustände. Durch die Zeit, die man sich mit ein und demselben Motiv beschäftigt, verleiht man der Arbeit einen ganz anderen Nachdruck und eine Wichtigkeit, gerade in einer Zeit, in der man täglich millionenfach mit Bildern bombardiert wird. Für mich ist das ein Akt des Aneignens, ein Ritual mit stark performativem Charakter, nur dass keine Zuschauer anwesend sind.

Geht es Dir dabei um eine möglichst virtuose Ausarbeitung des Motivs? Deine Zeichnungen werden ja häufig wegen ihrer Technik bewundert.

Eigentlich dreht sich mir der Magen um, wenn ich für mein zeichnerisches Können Komplimente bekomme, auch wenn ich weiß, dass es nett gemeint ist. Ich finde es natürlich toll, dass meine Ausstellung in Hamburg im „Saal der Meisterzeichnung“ stattfindet, gerade weil ich versuche, diesen Begriff von Könnerschaft zu unterwandern. Das Handwerkliche in meiner Arbeit sehe ich ziemlich kalt, wie ein Tool. Ich betrachte mich als Teil in einer gigantischen Bildermaschine und ich erledige meine Arbeit. Ich verarbeite im wahrsten Sinne des Wortes die Bilder, die auf mich einstürmen, die Dinge, die ich sehe oder sehen muss. Eine meiner Serien heißt tatsächlich auch Hirnsturm. Der Akt des Zeichnens führt dann auch weiter zu neuen Reproduktionen. Die gezeichneten Motive dienen zum Beispiel als Vorlage für Sticker oder Folien, die ich für neue Bilder, ortspezifische Arbeiten oder im öffentlichen Raum einsetze. Das kann etwa eine 14 Meter breite Fensterfront im Berghain sein, die ich mit Siebdruck gestaltet habe, oder auch einfach nur Sticker auf der Straße, die ich wie Tags hinterlasse.

Wieso hältst Du dann seit über einem Jahrzehnt am Medium Zeichnung fest? Du könnest doch rein digital arbeiten.

Ich weiß, dass ganz viele Menschen von dem Medium Zeichnung fasziniert sind und das nutze ich, um Leute anzuziehen, um ihre Aufmerksamkeit auf Dinge oder Situationen zu lenken, die sie sonst nicht so eingehend betrachten würden. Ein gutes Beispiel dafür sind vielleicht die Kotzelachen, die ich vor einer Weile in Paris fotografiert habe. Schönheit im normalen Sinne auf Papier zu bannen interessiert mich überhaupt nicht. Aber ich finde sie überall. Und diese Lachen schienen es wirklich wert, gezeichnet zu werden. Es sind wunderschöne abstrakte Formen und so sehen sie die Betrachter dann auch erst einmal, bis sie realisieren, worum es sich handelt. Dann setzt der Reflex des Wegguckens ein. Ich versuche in meiner Arbeit eher zum genauen und vorurteilslosen Hinsehen zu animieren. Die Lache von Erbrochenem ist beides – eine abstrakte Komposition und eine Dokumentation von latenter, zumeist männlicher Gewalt. Der Akt des Hinkotzens, Hinrotzens, Hinpissens dient ja auch dem Markieren von Terrain. Die Städte sind voll davon. Zugleich assoziiert sich das Erbrochene mit Überdruss, Exzess, Sucht, Überfluss, Ekel. Man hat einfach zu viel und möchte kotzen. Solche Ambivalenzen faszinieren mich. Vielleicht wirkt Reinhard in seinem billigen Skelettkostüm camp oder bizarr, aber er hat einen unglaublichen Stil und strahlt große Ernsthaftigkeit aus. Die Zeichnung von ihm kann man als schnappschussartiges Zeitdokument lesen. Sie kann aber auch an Vanitas-Darstellungen, mittelalterliche Totentänze erinnern oder natürlich auch an ganz zeitgenössische, mit Tod und Sterben verbundene Themen wie nukleare Verseuchung, AIDS oder Krieg.

Deine Zeichnungen zeigen häufig Phänomene aus der aktuellen Gegenwart, wie zum Beispiel Demonstrationen von Globalisierungsgegnern oder Nazis, Schneemann-Paraden für den Klimaschutz. Trotzdem wirken sie merkwürdig zeitlos und ähneln in ihrer Oberfläche den Motiven aus den 1960er und 1970er Jahren, die deine Serien immer wieder durchsetzten. So taucht bei Dir zum Beispiel nicht Lady Gaga als aktuelle Ikone der Popkultur auf, sondern immer wieder Michael Jackson oder Yves Saint Laurent, die eigentlich Legenden aus einer vergangenen Ära sind.

Das hat mehrere Gründe. Ich finde Lady Gaga eine tolle Künstlerin, obwohl ich mit ihrer Musik nicht viel anfangen kann. Aber noch ist sie viel zu sehr ein Zeitphänomen, als dass ich sie zeichnen könnte. Mich interessieren Menschen, die etwas sehr Zeitgemäßes und Progressives verkörpern und dabei aus der Zeit losgelöst erscheinen – durch einen eigenen Stil, eine eigene Haltung, eigene Visionen ihren eigenen Kosmos prägen und einfach nicht einzuordnen sind. Das kann Reinhard Wilhelmi sein oder Michael Jackson und Yves Saint Laurent. Der hat mit dem legendären Aktportrait von Jeanloup Sieff, das nach seinen Vorgaben entstand, ein absolut modernes und selbstbewusstes Bild des Homosexuellen geprägt. Michael Jackson wiederum hat Rassen-, Gender- und Altersgrenzen gesprengt. Er war der radikalste Entertainer des 20. Jahrhunderts. Er hat sich durch seinen extremen Reichtum in eine Kunstfigur mit unbestimmter Rassen- und Genderzugehörigkeit verwandeln können. Außerdem hat er noch drei weiße Kinder "gezeugt". Ich glaube nicht, dass es in Nordamerika auch nur eine gutbürgerliche afroamerikanische Familie gibt, der weiße Adoptivkinder zugesprochen werden. Das ist eine absolute politische Machtdemonstration. Mit all ihren tragischen und kaputten Aspekten verdeutlicht sie, wie weit wir von einer wirklich freien Gesellschaft entfernt sind.