Re-Reading: Verfremdungseffekte - Zeichnungen der ukrainischen Künstlerin Lada Nakonechna

In unserer Reihe „Re-Reading“ präsentieren wir Texte aus dem ArtMag-Archiv, die es wert sind, noch einmal aus heutiger Perspektive gelesen zu werden

 Lada Nakonechna ist eine der bedeutendsten ukrainischen Gegenwartskünstlerinnen. Bereits 2014 , kurz nach den Massenprototesten auf dem Maidan wurden für die Sammlung Deutsche Bank eine Reihe ihrer Zeichnungen angekauft. In ihren Arbeiten thematisiert die in Kiew lebende Künstlerin die politische 

Situation in ihrer Heimat, wobei ihr Interesse vor allem der Macht und Manipulation der Bilder gilt -  Verschwörungstheorien, Ideologie, dem Unterschied zwischen Information und Propaganda  Der verheerende Krieg in der Ukraine ist auch ein Informationskrieg. „Studium des Menschen“, Lada Nakonechnas aktuelle Ausstellung, die noch bis Ende April 2022 bei Eigen +Art zu sehen ist deshalb absolut aktuell. Noch einmal zum Nachlesen, unser Beitrag von 2015 zu Nakonechnas Werken, in denen sich Gewalt und Idylle überlagern.

In ihrer Video-Arbeit „Constructing the new Landscape“ lässt Lada Nakonechna Reportagefotografie mit romantischer Landschaftsmalerei kollidieren. Immer wieder schiebt sich das Gemälde eines dramatischen Wolkenhimmels über die Aufnahme eines Demonstranten, der von uniformierten Männern überwältigt wird. Ein Foto, wie wir es so häufig in den Medien sehen. Die horizontale Linie, an der die beiden Motive auf dem Monitor aufeinandertreffen, zittert, bleibt stehen, um sich dann wieder ein Stückchen nach oben oder unten zu verschieben. Doch die Linie bewegt sich nie so weit, dass eines der beiden Bilder komplett sichtbar wird. Gerade diese permanente „Enttäuschung“ des Zuschauers verleiht „Constructing the new landscape“ eine erstaunliche Spannung. Die “neue Landschaft”, die neuen Verhältnisse, die hier konstruiert werden, lassen sich offensichtlich nur mit Gewalt durchsetzen. Die Macht, in deren Auftrag die beiden Uniformierten handeln, bleibt ebenso anonym, wie der Demonstrant, den sie abführen. Die Gesichter aller Beteiligten sind hinter den Wolken des Gemäldes verborgen. Alles wirkt undurchschaubar – so wie die derzeitige Situation in der Ukraine, dem Heimatland der Künstlerin.

Den Titel „Constructing the new landscape“ verwendet Nakonechna auch für eine 2012 entstandene Serie von Bleistiftzeichnungen. Eine Auswahl wurde vor kurzem für die Sammlung Deutsche Bank angekauft. Hier kombiniert die Künstlerin ebenfalls Landschaftsimpressionen mit Bildern von Demonstrationen und Straßenkämpfen, deren Vorlagen aus dem Internet stammen. „Diese beiden Bildtypen sind gar nicht so unterschiedlich, wie man anfangs denken würde“, erklärt Nakonechna. „Das kritische Potential der Romantischen Landschaftsmalerei, die Auseinandersetzung mit Natur und Zivilisation, ist für den heutigen Betrachter allerdings nicht mehr erkennbar. Ihre Schönheit lenkt uns ab und tröstet uns, Naturdarstellungen beruhigen uns, indem sie die Realität von uns fernhalten. Aus diesem Grund habe ich versucht, das Bild so zu konstruieren, dass es Gefühle von Unbehagen vermittelt und damit eine unkritische Wahrnehmung verhindert wird.“

Nakonechna möchte den passiven Betrachter aktivieren, seinen, wie sie es formuliert, „konzeptuellen Apparat“ erweitern und ihn sensibilisieren – für die versteckten Botschaften von Bildern oder die gesellschaftlichen Verhältnisse, die darin zu Tage treten. Kein Wunder, dass man im Werk der 1981 geborenen Künstlerin häufig auf Bezüge zu Bertolt Brechts Epischem Theater stößt. Und das arbeitet mit dem sogenannten Verfremdungseffekt: Die Handlung wird durch Kommentare oder Lieder unterbrochen, um die Identifikation des Zuschauers mit den Figuren des Stücks zu verhindern. Die kritische Distanz zum Geschehen auf der Bühne soll ihn ermuntern, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen – auch im Bezug auf die gesellschaftliche Situation: „Die Verhältnisse sind anders vorstellbar, als sie sind“, so Brecht.

Um visuelle Klischees und reale Verhältnisse geht es auch in einem weiteren für die Sammlung Deutsche Bank erworbenen Werk Nakonechnas: Die 13-teilige Serie „Popular view. Gaze through the lilac in Kiev Botanical Garden, directed towards the river Dnepr” basiert ebenfalls auf Internetbildern. Wie Monets zu unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten gemalten “Heuhaufen” zeigen die Arbeiten immer wieder ähnliche Ansichten desselben Motivs. Nakonechnas Zeichnungen widmen sich den Fliederbüschen im Botanischen Garten von Kiew, einer Touristenattraktion, deren spektakuläre Blüte jeden Mai von Hunderten Besuchern bewundert und fotografiert wird. Anders als Monet geht es ihr nicht um verschiedene Lichtstimmungen. „Ich beschäftige mich hier mit dem Charakter dieser vorgefundenen Aufnahmen, dieser Bilder, die unsere Auffassung von Realität prägen. Die Serie zeigt, dass sich diese „dokumentierten Ansichten“ nicht besonders voneinander entscheiden. Bilder werden meist unbewusst gemacht – jeder hat heute die Möglichkeit zu fotografieren und drückt andauernd auf den Auslöser ohne groß darüber nachzudenken.“

Trotz der tagtäglichen Flut von Bildern sind wir, so die Künstlerin, „seltsamerweise unfähig, die visuellen Informationen, die wir aufnehmen, zu verstehen und zu beurteilen.“ Diese Fähigkeit wäre aber gerade in der augenblicklichen Lage in der Ukraine besonders wichtig. Nakonechna lebt in Kiew, der Hauptstadt eines Landes, das sich seit Jahren im Ausnahmezustand befindet. Streiks, Proteste und die gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern, die 2013/14 in den Massenprotesten auf dem Maidan kulminieren, erschüttern das Land. Mit einer Arbeit, die im Rahmen der Ausstellung „Through Maidan and Beyond“ im Wiener Architekturzentrum zu sehen war, reagiert die Künstlerin ganz direkt auf diese Situation. „‘Out of harm’s way‘ besteht aus zwei kleinen Elementen – einem Guckloch in der Wand und einem Objekt, auf dem ein Foto angebracht ist. Es zeigt das verletzte Auge eines Journalisten, der Zeuge der Ereignisse auf dem Maidan war. Sehen kann also eine echte Gefahr darstellen. Es ist nicht nur ein passiver Akt. Die Journalisten und auch andere Leute auf dem Maidan berichteten in Live Streams direkt vom Platz. So wurden sie zu den Augen der Menschen, die die Ereignisse von zu Hause aus verfolgten und die, wenn es nötig war, sofort auf die andere Seite des Monitors wechseln konnten.“

 Die Ukraine kommt nicht zur Ruhe: Auf die Krimkrise folgt der Krieg im Osten des Landes. Misstrauen, Verschwörungstheorien und gegenseitige Schuldzuweisungen prägen das gesellschaftliche Klima. Der Unterschied zwischen Information und Propaganda hat sich aufgelöst. Ein Phänomen, das sich natürlich nicht nur auf diese Region beschränkt. Kein Wunder, dass Nakonechna erklärt, dass man „visuellen Informationen nicht mehr länger trauen kann. Der Realitätsgehalt jedes Bildes, jeder Aktion muss angezweifelt werden.“

 Achim Drucks

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Anfang März haben Berliner Kunstinstitutionen unter dem Namen „Our Space to Help“ zu einer gemeinsamen Spendenaktion für Menschen aufgerufen, die aus der Ukraine flüchten. Im Rahmen der Aktion in der Neue Nationalgalerie sammelte das Bündnis 250.000 Euro für die Initiative Be an Angel e.V.

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