The Struggle of Memory: Ausgewählte KünstlerInnen I

Mohamed Camara, Certains matins no. 62, cousine me fait des trucs que je ne comprends pas, 2006

Mohamed Camara *1985, Bamako, Mali

Lebt und arbeitet in Bamako, Mali Mohamed Camara begann im Alter von sechzehn Jahren in den Straßen von Bamako, Malis Hauptstadt, zu fotografieren. Angeregt von einem Buch über Fotografie in Mali lieh der Autodidakt sich eine kleine Digitalkamera und entwickelte in der Folge sein bemerkenswertes Œuvre. Das Umfeld der Straßen empfand er als feindlich und wandte sich deshalb der Aufnahme von Innenräumen zu. Chambres Maliennes, seine erste Serie aus dem Jahr 2001, zog bei einer Ausstellung in Paris 2002 internationale Aufmerksamkeit auf sich. Dargestellt sind Liegende und Schlafende, Fenster, Vorhänge und farbig gestrichene Wände – intime Szenen des häuslichen Lebens. In der darauffolgenden Serie Certains matins, 2004–2006, eröffnet Camara den Betrachter*innen Einblicke in persönliche Morgenstimmungen, die sich zwischen Realität und Inszenierung bewegen. Oft ist nur eine Tür oder ein Fenster zu sehen, durch das diffuses Licht in einen Schlaf- oder Wohnraum fällt. In Certains matins, le prière, 2006, sehen wir ein Gebet am frühen Morgen. Auf einem mit islamischen Mustern verzierten Gebetsteppich sitzt ein Betender gen Osten blickend und verrichtet das Fajr-Salah, das erste der fünf muslimischen Gebete des Tages. Die Morgensonne scheint auf die Hände, lässt den Oberkörper aber im Schatten, als ob hier eine Verbindung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren geschaffen wird. Certains matins, au réveil… von 2006 zeigt den Schatten eines Mannes und einer Frau, die sich gegenüberstehen und deren Beziehung jedoch unklar bleibt. Aus der nicht eindeutigen Bildkomposition geht nicht hervor, ob sie Liebe oder Freundschaft verbindet. Streiten oder umarmen sie sich? Camaras Fotografien können aber auch humorvoll sein wie etwa in Certains matins, ma cousine me fait des trucs que je ne comprends pas, 2006, in denen seine junge Cousine im Kleid einer Erwachsenen posiert. Eine gewisse Zweideutigkeit schwingt im Bild mit, denn die Protagonistin dieser bizarren Szene könnte auch ein Gewaltopfer sein. Nur der unbeschwerte Titel erklärt die enge familiäre Beziehung zwischen Fotograf und Dargestellter. Die eindrucksvolle Originalität von Camaras Themen, seine skurrile Ästhetik und poetische Einfühlsamkeit stehen konträr zum Fotojournalismus in Mali, der in westlichen Zeitschriften zu sehen ist – sogar zu den gefeierten Arbeiten malischer Studiofotografen wie Seydou Keïta und Malick Sidibé der 1960er-Jahre, als das Land gerade die Unabhängigkeit von Frankreich erlangte.

Neben den Arbeiten in der Ausstellung „The Struggle of Memory“ ist Mohamed Camara als Etagenkünstler in den Doppeltürmen der Deutschen Bank in Frankfurt zu sehen.

Image: Mohamed Camara
Certains matins no. 62, cousine me fait des trucs que je ne comprends pas, 2006

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Samuel Fosso *1962, Kumba, Kamerun

Lebt und arbeitet in Bangui, Zentralafrikanische Republik (CAF) Nachdem er als Kind aus Kamerun nach Nigeria gezogen war, musste Samuel Fosso schon einige Jahre später wegen des nigerianischen Bürgerkriegs (1967–1970) aus diesem Land fliehen. Er kehrte zurück in die Zentralafrikanische Republik (CAF) und war dort in der Werkstatt seines Onkels als Schuhmacher beschäftigt, bevor er im Alter von nur dreizehn Jahren sein eigenes Fotostudio eröffnete. Dort arbeitete er tagsüber an kommerziellen Aufträgen, während er nachts mit Selbstporträts experimentierte, dem Genre, das seitdem seine Tätigkeit prägt. Die Aufnahmen der Serie 70s Lifestyle Series, 1975–78, zeigen den jungen Fotografen in modischen Anzügen, die er bei einem Schneider vor Ort nähen ließ. Seine Posen sind von populären Bildern afroamerikanischer Musiker und Berühmtheiten inspiriert. Für jede Fotografie verwandelt er sich in eine andere Persönlichkeit, in Figuren, die ihn selbst aber auch von ihm erfundene Personen zeigen. Diese Strategie wird er in seinem Werk über die folgenden fünf Jahrzehnte weiterverfolgen. Seit den 1970ern werden Fossos Selbstporträts ausgefeilter und theatralischer: Er zeigt historische oder autobiographische Charaktere wie in einem Theaterstück, wechselt dabei die Geschlechter, um kulturelle Codes der Repräsentation und die Rolle der Fotografie bei der Konstruktion von Identitäten zu untersuchen. Seine späteren Projekte wurden von dem Kurator Okwui Enwezor als „selbst geschaffenes Theater der postkolonialen Identität“ beschrieben. In seiner Serie African Spirits von 2008 stellt er historische Aufnahmen von führenden Persönlichkeiten der panafrikanischen Befreiungs- und Bürgerrechtsbewegung nach. In der Serie ALLONZENFANS von 2013 trägt Fosso Uniformen der französischen Kolonialmacht und erinnert so an die unzähligen Afrikaner, die in beiden Weltkriegen für Frankreich kämpften. Ebenfalls 2013 macht er die neokolonialen Beziehungen zwischen China und den tief verschuldeten Ländern Afrikas zum Thema, als er sich in der Serie Emperor of Africa in Mao Zedong verwandelt. In der für ihn eher untypischen Serie Memoire d’un ami von 2000 spielt Fosso sich selbst und beschwört die Ereignisse einer schicksalhaften Nacht im Juni 1997 auf, als sein senegalesischer Freund und Nachbar Tala von bewaffneten Milizen angegriffen und getötet wurde. Auch wenn diese Schwarz-Weiß-Bilder sorgfältig in Szene gesetzt sind, so wirken sie einzeln betrachtet wie Schnappschüsse. Die Sequenz von neun Selbstporträts in Schwarz-Weiß zeigt den Künstler nackt und verletzlich. Durch einen Tumult im Bett aufgeweckt, erscheint er nur mit einem Handtuch um die Taille gelegt am Fenster, wirkt verwirrt und verängstigt und versucht dann, sich in einem Pappkarton zu verstecken. Hier wird Erinnerung als Dokumentarfilm präsentiert und die traumatische Erfahrung zur kathartischen Performance.

Neben den Arbeiten in der Ausstellung „The Struggle of Memory“ ist Samuel Fosso als Etagenkünstler in den Doppeltürmen der Deutschen Bank in Frankfurt zu sehen.

Abbildung: Samuel Fosso
70’s Lifestyle Series, 1975-78

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Lebohang Kganye *1990, Johannesburg, Südafrika

Lebt und arbeitet in Johannesburg, Südafrika. Sich selbst begreift Lebohang Kganye als Geschichtenerzählerin. An der Fotografie interessiert sie besonders deren Materialität, um Themen wie Erinnerung, Imagination und Identitätsformung mithilfe ihrer eigenen Familiengeschichte und weiteren Archivmaterials zu visualisieren. Mit ihren Installationen, Skulpturen, Fotografien und Filmen reagiert sie auf persönliche Verluste und die Trauer um enge Familienmitglieder, nimmt aber auch Bezug auf Geschichte, Identität, Wissen und Tradition ihrer Vorfahren. Sie setzt sich dabei mit der Eigenschaft der Fotografie auseinander, Zeitmomente faktisch festzuhalten und zugleich nur einen illusorischen Anspruch auf Objektivität zu haben. In ihren Augen kann Fotografie die Vergangenheit nur partiell wiedergeben. Lücken werden mit persönlichen Geschichten gefüllt, während der ungeklärte Rest der Fantasie überlassen bleibt. Der kurze Animationsfilm Ke sale teng (I’m Still Here) von 2017 beruht auf Familienfotoalben. Darin wird deren Bedeutung für die Schaffung einer Identität und das Verstehen des eigenen Erbes hinterfragt. Eine Sequenz kurzer Vignetten mit geisterhaften Silhouetten der verstorbenen Mutter und des Großvaters der Künstlerin, lassen Augenblicke der Vergangenheit ihrer Familie wiederaufleben, die Kganye nur aus den Erzählungen anderer kennt. Die Betrachter*innen sehen die Umsiedlungen und Notunterkünfte der Familie während der Apartheid. Ein Landgesetz, das es schwarzen Südafrikaner*innen untersagte, Land in „weiß“ ausgewiesenen Gebieten zu besitzen oder zu pachten, führte zu Entwurzelung und Vertreibung. Dieses Gesetz war eine der Grundlagen der Apartheid; es schränkte die Rechte der Bewohner*innen im ganzen Land ein und zwang Familien wie die von Kganye von Ort zu Ort zu ziehen. Ke sale teng (I’m Still Here) geht von Kganyes früherer Serie von Inkjetprints, Reconstruction of a Familiy von 2016 aus. Hier sind große Pappfiguren und andere Elemente, die auf Familienfotos und schemenhaften Geschichten basieren, in Dioramen aufgebaut, die die Vergangenheit heraufbeschwören. Im Fokus beider Werke steht Kganyes Großvater, der auf der Suche nach Arbeit aus dem Orange Free State nach Transvaal zog. Obwohl die Künstlerin in seinem Haus in Johannesburg zur Welt kam, hat sie ihn nur noch durch die mündliche Überlieferung von Familienmitgliedern kennengelernt. Diese Geschichten bilden, kombiniert mit fotografischem Material, die Grundlage ihrer visuellen Narrative. In einer bestimmten Zeit und Ort verwurzelt, sind die von Kganye behandelten Themen der Vertreibung, Migration und Suche nach einem Ort von universeller Relevanz.

Abbildung:  Lebohang Kganye
Ke Sale Teng, 2017